Sittuyin, Makruk, Xiangqi und Shogi in alten Berichten

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Alte Brettspiele in Asien

Alte asiatische Brettspiele, die mit dem Schachspiel verwandt sind, erfreuen sich noch heute großer Beliebtheit. In meiner Schachsammlung habe ich in der Leipziger Illustrirten Zeitung vier Beiträge aus den Jahren 1863, 1864 und 1875 entdeckt, die ich nachfolgend hier veröffentliche. Diese frühen Berichte beruhen auf dem damaligen Wissensstand und sind zum Teil nicht mehr auf dem aktuellen Stand heutiger Erkenntnisse. Sie versetzen jedoch den Leser in die Zeit des 19. Jahrhunderts. Wer sich für die Geschichte des Schachspiels interessiert, wird vielleicht auch Interesse an diesen asiatischen Brettspielen haben.


I. Schach in Birma

Birma oder Burma, heute die Republik der Union Myanmar, ist ein Staat in Südostasien und grenzt an Thailand, Laos, die Volksrepublik China, den Nordosten Indiens, Bangladesch und den Golf von Bengalen. Dort wird heute überwiegend Schach nach den internationalen Regeln gespielt, aber auch das traditionelle burmesische Schach "Sittuyin" ist in einigen Regionen noch verbreitet. Es handelt sich um eine Variante des indischen Chaturanga und geht auf das 6. Jahrhundert nach Christus zurück.  Das Wort Sittuyin repräsentiert die vier Merkmale Kriegswagen, Elefanten, Kavallerie und Infanterie. Das Brett hat 64 Felder, die alle von gleicher Farbe sind. Zusätzlich gibt es zwei diagonale Linien über das Brett, die "Sit-Ke-Myin" (Linien des Generals). Die Spielsteine sind rot und schwarz und ihre unterschiedliche Höhe bedeutet die Wertigkeit.

Min-Gyi (König) entspricht dem Schachkönig und kann einen Schritt in jede Richtung gehen. Sit-ke (General) ist vergleichbar mit der Dame im Schach. Sin (Elefant) ist wie ein Läufer, Myin (Pferd) wie ein Springer, Yahhta (Streitwagen) wie ein Turm, Nè (Feudalherr) wie ein Bauer. Weitere Informationen im englischen Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/Sittuyin

Hier folgt ein Bericht aus der Illustrirten Zeitung von Adolf Bastian (* 26. Juni 1826 in Bremen; † 2. Februar 1905 in Port of Spain in Trinidad). Er war Arzt, Ethnologe und Gründungsdirektor des Museums für Völkerkunde in Berlin. 1861 reiste er nach Süd- und Ostasien. 1863 entschlüsselte er als erster die mythologischen Wurzeln von Angkor. Die Illustrirte Zeitung Nr. 1044 vom 4. Juli 1863 schreibt auf Seite 18:

"Über das birmesische Schachspiel gehen uns von dem zur Zeit in Birma, im nordwestlichen Hinterindien, weilenden Dr. Adolf Bastian die nachfolgenden, wenn auch nur kurzen und noch manche Frage offen lassenden Mitteilungen zu, die aber des Interessanten doch so viel bieten, dass wir glaubten sie unseren Lesern nicht vorenthalten zu dürfen. Vielleicht gelingt es uns später einmal, die gegebenen Nachrichten vervollständigen zu können.

Das birmesische Schachspiel ist gleich dem indischen und arabischen verschieden von dem europäischen und für viele Liebhaber vielleicht angenehmer, da es mehr den Charakter eines eigentlichen Kriegsspiels trägt. Jeder Spieler hat freie Hand in der Aufstellung und die Figuren bewegen sich in einer natürlichen Weise unter- und gegeneinander, während in unserem Spiel ein Offizier mit einem Zuge von einem Ende des Bretts auf das andere versetzt wird und die ganze Ausdehnung einer Linie beherrscht.

Nur die Yetta oder Streitwagen können sich in der Weise unserer Türme über die ganze Linie bewegen, alle anderen Figuren gehen nur einen Schritt, mit Ausnahme der Springer, deren Bewegungen den unsrigen vollkommen gleichen. Die Stellung des Königs, der ganz dieselbe Gangart wie auf unserem Brett hat, wird infolgedessen eine sehr wichtige. Die Elefanten, unsere Läufer, haben fünf Züge vorwärts und rückwärts in der Diagonale, geradeaus, vorwärts und nach beiden Seiten seitwärts. Der Seekay, General, der unserer Dame entspricht, bewegt sich in der Diagonale vorwärts und rückwärts nach beiden Seiten. Er ist der einzige Offizier, der durch die Bauern wieder ersetzt werden kann, wenn er verloren gegangen ist. Um dies zu erreichen, muss der äußerste Bauer bis zum letzte (vierten) Felde avancieren, der nächste drei Felder, der folgende zwei Felder und der letzte eins. (Hier werden die Felder A8, B7, C6, D5, E5, F6, G7 und H8 angegeben.)"

Schach in Birma, Burma, Myanmar, Sittuyin, birmesisches oder burmesisches Schachspiel

Der Unterschied zwischen weißen und schwarzen Feldern auf dem Schachbrett fällt weg. Die Aufstellung der Steine steht in dem Belieben des Spielers, ist aber meist die hier angegebene.
 

II. Schach in Siam / Thailand

"Makruk" ist der Name des thailändischen Schachspiels und geht wie das burmesische "Sittuyin" auf das Chaturanga zurück. Die Mehrheit der Thais spielen Makruk und nur einige Tausende spielen Schach nach den internationalen Regeln. Laut Ex-Weltmeister Vladimir Kramnik ist das thailändische "Makruk" noch strategischer als das internationale Schach. Weitere Informationen finden Sie im deutschen Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Makruk

Dazu ein weiterer Bericht von Adolf Bastian in der Illustrirten Zeitung Nr. 1085 vom 16. April 1864 auf Seite 266:

"In Nr. 1044 d. Bl. vom 4. Juli brachten wir einige kurze Mitteilungen über das birmesische Schachspiel. Als einen weiteren schätzenswerten kulturhistorischen Beitrag lassen wir hier die nachstehenden Andeutungen über das in Siam gebräuchliche Schachspiel folgen, die wir der Güte des nämlichen Herrn Verfassers, Dr. Adolf Bastian in Bangkok verdanken.

Das siamesische Schachspiel gleicht in der Art der Züge ganz dem birmesischen und unterscheidet sich von demselben nur in zwei Punkten: 1) dass die Aufstellung nicht, wie bei dem birmesischen, in dem Belieben der Spieler liegt, sondern eine durch den Gebrauch fest gegebene ist, wonach die Soldaten durch eine offen bleibende Reihe von den Offizieren getrennt stehen. (siehe das Diagramm). 2) dass jeder Soldat, der auf dem (sechsten) Feld der gegenüberstehenden Soldaten anlangt, ein Offizier vom Range des Met (der Königin) wird, so dass zuweilen mehrere Met zu gleicher zeit auf dem Brett sein können."

Schach in Thailand, siamesische oder thailändisches Makruk.


Die Soldaten oder Peone werden gewöhnlich durch (Kauri)-Muscheln Bia genannt, dargestellt, und heißen deshalb auch Bia. Wird die Bia zum Range eines Met erhoben, so wird sie umgedreht, so dass sie mit der Öffnung nach oben zu liegen kommt. Die Offiziere werden genau in derselben Weise wie beim europäischen Schachspiel aufgestellt. Die Türme heißen Rüa (Boot), die Springer Ma (Pferd), die Läufer Khon (Edelmann). der König Khun (König) und die Königin Met (ein kleines bisschen). Die letzte Bezeichnung soll andeuten, dass diese Figur nur ein kleiner Edelmann ist, da die Bewegungen der Königin im siamesischen Schachspiel sowohl wie im birmesischen weit beschränkter als in dem unsrigen sind.
 

III. Schach in China

Zwei Wochen nach Veröffentlichung des Berichts "Schach in Siam" erschien in der Illustrirten Zeitung Nr. 1087 vom 30. April 1864 auf S. 302 der nachfolgende Bericht über das chinesische Schachspiel (Xiangqi):

"Ganz verschieden von dem birmesischen wie von dem siamesischen Schachspiel ist das chinesische. Bowring in seinem Buch: "On the kingdom and people of Siam" (Vol. I, p. 151), beschreibt es als das siamesische und beruft sich dabei auf das alte Werk La Loubère's: "Description de la royaume de Siam", das nach der Gesandtschaft im Jahr 1688 veröffentlicht wurde, wo man es allerdings auch so angegeben findet. Das chinesische Schach wird bei der zahlreichen chinesischen Bevölkerung häufig in Bangkok (in Siam) gespielt, aber die Siamesen unterscheiden es sehr wohl von ihrem eigenen.


Xiangqi Illustration des chinesischen Schachspiels von 1864


Die mittelste Linie auf dem chinesischen Schachbrett bildet den Fluss, Hu.
Die Züge der Figuren, die an den Ecken aufgestellt werden, sind vorwärts, seitwärts oder schräg.
Auf der vierten Linie stehen fünf Soldaten, Pehng. Sie gehen nur eine Linie vorwärts, aber nachdem sie den Fluss passiert haben, können sie sich auch seitwärts bewegen, ohne indes zurückkehren zu können, sodass, wenn sie das letzte Feld erreicht haben, ihre Bewegung nur seitlich geschieht.
Hinter den Soldaten befinden sich zwei Kanonen, Tau. Diese bewegen sich seitlich oder vorwärts, irgendeine Anzahl von Feldern, können aber eine feindliche Figur nur dann nehmen, wenn dieselbe von einer anderen, eigenen oder feindlichen, dazwischen stehenden Figur bedeckt ist, indem sie solche überspringen.
Die Streitwagen, Khuh, gehen seitlich oder vorwärts eine beliebige Anzahl von Feldern.
Die Pferde, Bach, bewegen sich im Rösselsprung. Sie können eine feindliche Figur, die auf dem von ihnen zu besetzenden Feld steht, nicht nehmen, wenn eine andere Figur dazwischen steht.
Die Elefanten, Chioh, die niemals den Fluss passieren können, gehen zwei Diagonalen.
Die Minister, Su, bewegen sich nur eine Diagonale weit und nur im Innern des Lagers.
Der König, Soeh, geht nach jeder Richtung einen Schritt, doch nur innerhalb des Lagers."

Anmerkungen:
Sir John Bowring (1792-1872) war ein britischer Staatsmann, Reisender, Schriftsteller und Polyglott. Seine Beschreibung von Siam (Thailand) erschien 1857 in zwei Bänden in London bei J.W. Parker & Son unter dem Titel: The kingdom and people of Siam : with a narrative of the mission to that country in 1855.

Grundlage war unter anderem auch das 1691 in Amsterdam bei Abraham Wolfgang erschienene Werk des französischen Diplomaten, Mathematikers und Dichters Simon de la Loubère (1642–1729) mit dem Titel: Du royaume de Siam, par Monsr. de la Loubere, envoyé extraordinaire du roy auprés du roy de Siam en 1687 & 1688.

Das chinesische Schach "Xiangqi" ist eine in Ostasien verbreitete Form des Schachspiels, die seit dem 9. Jahrhundert existiert. Eine ausführliche Beschreibung finden Sie auf der folgenden Seite von Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Xiangqi

 

IV. Schach in Japan

"Shogi" ist bekannt als japanisches Schach oder als das Spiel der Generäle. Es ist wie die beiden zuvor genannten Spiele ein strategisches Brettspiel für zwei Spieler und zählt damit zur "Familie" von Schach, Makruk, Shatranj, Janggi und Xiangqi. Shogi ist in Japan die beliebteste Schachvariante. Es war auch die früheste Schachvariante, die es ermöglichte, eroberte Steine vom einnehmenden Spieler auf das Brett zurückzubringen. Es wird vermutet, dass diese Drop-Regel im 15. Jahrhundert erfunden wurde und möglicherweise mit der Praxis von Söldnern aus dem 15. Jahrhundert in Verbindung gebracht wurde, die Loyalitäten änderten, wenn sie gefangen genommen wurden, anstatt getötet zu werden. Weitere Infos, siehe Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Sh%C5%8Dgi

Auch zum japanischen Schachspiel habe ich in meiner Sammlung einen Bericht von B. M. Kapri, d. i. Baronin Mathilde von Kapri, geb. Freiin von Guretzky-Kornitz (* 5. Februar 1832 in Santa-Maria di Capua Vetere (40 km von Neapel); † 4. Oktober 1889 in Wien). Neben einigen wenigen literarischen Werken schrieb sie u. a. Berichte über die japanische Kultur.

Illustrirte Zeitung Nr. 1662 v. 8. Mai 1875, S. 3518: Das japanische Schachspiel. Auf Grund der "Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens" von B. M. Kapri.

Weit verbreiteter als bei uns findet man in China und Japan die Übung des edelsten der Spiele, des Schachspiels. Im Widerspruch gegen die Annahme, dass es eine Erfindung der Inder sei, beanspruchen die Chinesen die Ehre der Erfindung. Sie weisen nach, dass das Schachspiel schon im grauen Altertum eine Lieblingsbeschäftigung ihres Volkes gewesen sei. Nach dem Buch "Meng-tse" war es bereits 300 Jahre v. Chr. im Himmlischen Reich allgemein und seit lange verbreitet, und der Chinese J-tsien wird in jeder Chronik als der beste Spieler des Reichs bezeichnet.

Von China drang es nach Japan. Ein Blick auf das beigegebene Schema des japanischen Schachbretts wird dem Leser sogleich die große Verschiedenheit von dem abendländischen in der Anzahl der Figuren und Felder zeigen. In der Tat ist das japanische Schachspiel ein vom europäischen wesentlich verschiedenes. Vermöge der viel mindern Freiheit der Figuren engagieren sich die japanischen Gegner nicht so rasch, und die Kombinationen sind im Ganzen minder interessant als die des europäischen Schachspiels.

Der Europäer ist gewohnt, auf dem Schachbrett 64 teils helle, teils dunkle Felder zu sehen, das japanische Schachbrett aber hat 81 Felder von gleicher Farbe, die dadurch bezeichnet werden, dass man schwarze Linien über das Brett zeiht, welches gewöhnlich gelb angestrichen ist. Die einzelnen Felder bilden keine Quadrate, sondern sie sind etwas länglich und entsprechen dadurch einigermaßen der Gestalt der Schachfiguren. Die Länge des Bretts beträgt 36 cm, die Breite 32 cm. Da das Brett auf die Matte des Fußbodens vor die dort sitzenden Spieler gestellt wird, ist es mit Füßen von 10 bis 12 cm. Höhe versehen.
Die Figuren sind von einem etwas dunkleren gelb als das Brett, damit sie sich von demselben genügend abheben. Man spielt mit 40 Figuren auf 81 Feldern. Die einzelnen Figuren sind keilartig, aber je nach dem ihnen beigelegten Wert von verschiedener Größe. Indessen wäre wohl der Unterschied der Größe bei diesen ganz ähnlich gestalteten und gleichfarbigen Figuren noch immer nicht genügend, um Verwechslungen zu verhüten; deshalb ist einer jeden Figur mit chinesischen Buchstaben der Name und damit zugleich die Wertbezeichnung auf ihre nach oben gekehrte Seite geschrieben. Mit Ausnahme des Königs und der Goldoffiziere, von denen wir sogleich sprechen werden, haben sämtliche andere Figuren noch ein zweites Zeichen auf der beim Anfang des Spiels nach unter gekehrten Seite. Man legt die Figuren so auf die Felder, dass sie mit ihrem schmalen und dünnen Ende nach dem Sitz des Gegners gerichtet sind. Dadurch lässt sich immer genau erkennen, welche Figuren dem einen oder dem anderen der beiden Spieler gehören, und die Japaner irren sich darin so wenig wie wir uns bei der Verschiedenheit der Farben zu irren vermögen.


japanisches Schach Shogi Brett und Bericht von 1875


Oo, der König. Er erhält bei der Aufstellung der Figuren seinen Platz in der Mitte der Randreihe, und zwar an den schmaleren Seiten des Bretts, E1 und E9. Zu jeder Seite hat er vier Offiziere. Seine Bewegungen sind dieselben wie die des europäischen Schachkönigs. Es ist ihm gestattet, nach jeder Richtung hin das ihm zunächst liegende Feld zu betreten, damit aber enden seine Befugnisse.

Unserer Schachdame, welche in unserem Spiel so ausgedehnte Freiheit genießt, gleicht keine Figur des japanischen Schachspiels. Mit solch autokratischer Allmacht beherrscht keine von ihnen das Feld. Daraus folgt, dass im Gegensatz zu unserem Spiel, bei Beginn desselben, die Stellung der Figuren für beide Spieler die gleiche ist; und schon dadurch ergibt sich das Spiel als ein minder kompliziertes.

Kinscho oder Ginscho. Zur rechten und Linken des Oo (Königs) steht je ein Goldgeneral, "Kinscho". Dies ist nun wieder eine Figur, mit der sich keine einzige europäische Schachfigur vergleichen lässt. Ein Kinscho darf z. B. von E3 na D4, E4, F4 vorwärts rücken; auch der Schritt nach D3 oder F3 seitwärts und nach E2 rückwärts ist ihm gestattet; keineswegs aber darf er sich erlauben, von E3 nach D2 oder F2 schräg rückwärts zu gehen. Ebenso wenig haben die neben den Goldoffizieren stehenden Silberoffiziere (Ginscho) die geringste Ähnlichkeit mit irgendeiner Figur des europäischen Schachspiels. Ihre Gangweise ist nicht minder originell als die ihrer Kameraden. Ginscho bewegt sich z. B. von E3 nach D4, E4 und F4 vorwärts, ebenso von E3 nach D2 und F2 schräg rückwärts, hat aber dennoch vor seinem Nachbarn Kinscho keinen Vorteil voraus, denn die demselben erlaubten Schritte von E3 nach D3 oder F3 seitwärts und E2 gerade rückwärts sind ihm versagt; ja er ist sogar entschieden im Nachteil gegen Kinscho, der sich auf sechs verschiedene arten bewegen kann, während ihm nur fünf Bewegungen gestattet sind. Größere Sprünge zu machen, ist den Gold- und Silberoffizieren nicht erlaubt. Besonnen schreiten sie vorwärts oder retirieren, je nach Bedarf, und bilden so recht eigentlich des Königs Generale. Sie bewegen sich frei, doch aber nicht so ungebunden wie der König, der sich nach allen Seiten hin wenden kann. Kinscho beherrscht zwei Felder weniger, Ginscho drei Felder weniger als seine Majestät.

Keï-M'ma und Yari. Keï-M'ma oder schlechthin Keï erhalten bei der Aufstellung die Plätze B1, B9, H1 und H9. Diese Figur gleicht unserem Springer, hat aber einen weit beschränkteren Spielraum. Die Keï-M'ma dürfen nur vorwärts springen, z. B. von E3 nach D5 oder F5. In den vier Ecken des Schachbretts stehen die Yari oder Kioscha. Diese sind ebenfalls weit schlechter daran als unsere Schachtürme. Sie dürfen zwar geradeaus ebenso weit vorwärts gehen als unsere Türme, aber weder seitwärts noch rückwärts, und sind daher während des ganzen Spiels an eine und dieselbe Felderreihe gebunden.

Hischa und Kaku sind die freiesten Figuren des japanischen Schachspiels. Hischa steht beim Anfang des Spiels auf B2 und H8, Kaku auf B8 und H2. Hischa hat alle Eigenschaften des europäischen Turms, Kaku diejenigen des Läufers.

Fu, Hiyo oder Hei nennt man die japanischen Schach-Bauern, deren jeder Spieler neun zu seiner Disposition hat. Die Bauern nehmen die dritte, resp. siebente Felderreihe ein. Auch sie sind entschieden im Nachteil verglichen mit ihren europäischen Kollegen. Wie diese dürfen sie nur immer ein Feld geradeaus vorwärts gehen, schlagen aber auch in derselben Reihe, daher nur in einer Richtung, während unsere Bauern nach rechts und links vorwärts schlagen können.

Was aber den Vorteil, welchen die Figuren des europäischen Schachspiels denen des japanischen gegenüber besitzen, so ziemlich aufwiegt, das sind folgende Spielregeln:
Sobald Ginsch, Yari, Keï oder Fu in die Aufstellungsreihen des Gegners gelangen, so erwerben sie dadurch das Recht, statt ihres früheren Werts denjenigen eines Goldoffiziers anzunehmen. Indem diese Verwandlung stattfindet, dreht der Spieler, welcher diesen Vorteil errungen, die betreffende Figur herum und sagt "naru". Der japanische Spieler fürchtet dieses "naru" fast ebenso sehr als der europäische Schachspieler den Siegesruf, mittels welchem sein Gegner mit gehobener Stimme die Verwandlung eines Bauern in die Königin ankündigt. Mit allen Mitteln der Kunst trachtet man, das "naru" zu verhindern, und dieser Vorsicht wegen wird der Ruf auch nicht gar zu oft gehört. Dessen ungeachtet sind beim japanischen Schach die Verwandlungen natürlich noch viel häufiger als beim europäischen. Zuweilen kommt es jedoch vor, dass ein Spieler es für besser hält, eine Figur, namentlich Ginscho, nicht Goldoffizier werden zu lassen, wenn er auch dazu berechtigt ist. Hischa und Kaku verwandeln sich ebenfalls, sobald sie in die gegnerischen Reihen gelangen, in Goldoffiziere und überdies behalten sie dabei ihren früheren Wert vollkommen bei. Natürlich unterlässt man hier das "naru" nie, denn ein Läufer oder Kaku, der das Privilegium besitzt, nebst seinem Schräglauf auch einen Schritt vor, rückwärts, rechts und links zu gehen, hat mehr Rechte als der König und kann unter Umständen sehr gefährlich werden; auch ein Turm oder Hischa, welcher, wenn ihn Bauern in gerader Richtung genieren, im Vorschreiten seitwärts ausbiegen kann, ist nicht zu unterschätzen.

Was aber dem japanischen Spieler zu noch größerem Vorteil gereicht, ist der Umstand, dass die Figuren, die er dem Gegner genommen, nicht wie bei uns, tot sind, sondern dass er sie vielmehr jederzeit wieder im selben Spiel verwenden, ja sie auf jedem ihm beliebigen leeren Feld des Schachbretts als sein eigener wieder in Tätigkeit setzen und wider den Gegner ins Feld führen kann, sodass jeder Verlust des Gegners die eigene Truppenzahl vermehrt. Das Opfern einer Figur zu höherem Zweck, das bei unserem Schachspiel eine so große Rolle spielt, entfällt hiermit von selbst, denn der Verlust jeder einzelnen Figur birgt unbekannte, kaum stets vorherzusehende Gefahren. Der Gewinner braucht die eroberte Figur nicht sogleich in Tätigkeit zu setzen; er darf dazu den geeigneten Zeitpunkt abwarten; man kann sich daher die Spannung des Gegners vorstellen, welcher zu gewärtigen hat, entweder auf einem für frei gehaltenen Feld urplötzlich eine sehr unliebsame Begegnung mit dem Feind, der bisher im Hinterhalt gelauert, zu erleben oder bei dem Freigeben eines Feldes in den eigenen Reihen einen gefürchteten Feind auftauchen zu sehen, den der nächste Zug zum Goldoffizier macht, denn das Aufsetzen einer Figur gilt für einen Zug und auf dem Feld, das man hierzu gewählt, befindet sich bei dem Aufsetzen die Figur in ihrem ursprünglichen Wert, heiße sie nun Ginscho, Yari, Kei oder Fu. Erst der nächste Zug macht sie zum Goldoffizier. Eine Beschränkung in der Verwendung eroberter Figuren besteht nur insofern, als ein Spieler keinen zweiten Bauern in eine Buchstabenreihe setzen darf, wo sich schon einer seiner Bauern befindet, also nicht auf E5, wenn ein Bauer desselben Spielers auf E3 steht.

Beim Beginn des Spiels losen japanische Spieler um den ersten Zug, indem der eine von ihnen einen Bauer auf das Brett fallen lässt, während der andere rät, welche Seite beim Fallen nach oben kommen werde.
Fast alle Japaner besserer Stände spielen Schach mit mehr oder minder Geschicklichkeit. Es wird vielleicht für die Leser von Interesse sein, nachfolgende Schachpartie nachzuvollziehen, welche in Gegenwart eines Mitglieds der deutschen Gesellschaft von zwei Japanesen gespielt wurde.

O für Oo, König; Ki für Kinscho, Goldoffizier; Gi für Ginscho, Silberoffizier; Ke für Keï-M'ma, Springer; Ya für Yari; Hi für Hischa, Turm; Ka für Kaku, Läufer; Fu für Fu, Bauer; n für nimmt; N für naru; bedr. für bedroht.

Schachpartie japanisches Schach, Shogi Partie von 1875
 

Viel Spaß beim fernöstlichen Brettspiel wünscht Elke Rehder.

Bitte besuchen Sie auch meine Homepage www.elke-rehder.de

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